Ich hätte weinen mögen vor lachen und darum möchte ich euch die Schreibarbeit von Jann Wattjes keinesfalls vorenthalten
Die Hauptschulchroniken: Jann und die Soziopathenfabrik
Lektion 3+3=7: Hauptschule, was kommt raus? (No. 1/3)
Weißer Rauch steigt auf, die Entscheidung ist gefallen. Und die Rede
ist nicht davon, dass irgendein rechter Argentinier jetzt der neue
Vertuscher von Kindesmissbrauchsfällen ist. Nein, gemeint ist die
Raucherecke (eigentlich füllt sie drei Ecken des Raumes) des
Lehrerzimmers, wo endlich ausgeknobelt
wurde, wer den dämlichen Praktikanten (meine Wenigkeit) mit sich
rumschleppen muss. Herr Reintsch, seines Zeichen sichtbarer Alkoholiker
und wie ich ursprünglich Ostfriese (ja, zugegeben, Pleonasmus),
unterrichtet eine 8. Klasse in Religion.
Wir gehen einen unsauberen
Korridor entlang (man sollte meinen, dass ein Ort, der von zukünftigen
Hausmeistern nur so wimmelt, auch so aussehen kann als wäre dort
zumindest einer angestellt) und betreten einen winzigen, schlecht
beleuchteten Raum, dessen Besetzung erst in der 3. Reihe beginnt. Jene
Meute legt nun Smartphones und Butterflymesser beiseite und mustert mich
hinterfragend. "Er is hässlich, er soll nich in unsre Klasse!", ruft
ein Kleinwüchsiger mit Raucherhusten. Bei dem Wort hässlich wird mir
schnell etwas klar. Meine Fresse, sind das widerliche Gestalten. Soviele
Pickel hatten wir doch früher nicht. Oder? Und die Mädchen haben auch
noch jeden einzelnen davon so auffällig übermalt, dass sie nicht hier
sitzen würden, wüssten sie wieviele chemische Reaktionen gerade auf
ihrer Haut stattfinden. "Der guckt hier nur zu. Setz dich mal nach da
hinten." Reintsch deutet auf den Platz neben dem fetten Jungen. Ich
wette der riecht gut. Von der gesamten Muppetshow misstrauisch
beobachtet, lege ich mich natürlich nicht volle Suppe aufs Maul und
ertrage unter sporadischem Gelächter die gesamte Stunde mit Nasenbluten.
Warum sich der Rest der Anwesenden auf eine andere Version einigte, ist
nicht überliefert.
Nach berechtigten Eingangsfragen wie "Unsere
Bibeln sind ja gar nicht mehr aktuell, jetzt wo Deutschland nicht mehr
Papst ist, oder?" und "Wann kommen wir endlich zu der Stelle mit
Hitler?" beginnt meine erste Unterrichtsstunde als nicht Schüler,
sondern Voyeur.
Der fette Junge heißt Leopold und zögert
nicht lange mir sein Mobiltelefon und schlecht gephotoshopte Bilder mit
ihm und (offensichtlich) Prominenten zu präsentieren. "Das [ist] das
iPhone 4", nuschelt er. "Aber Ashkan sagt, das is aus China, nur weil
das i falschrum ist." Ashkans Urteil in allen Ehren, an diesem Gerät war
sehr viel mehr falsch als das Ausrufezeichen vor dem Wort Phone. Das
hatte mit einem iPhone in etwa soviel zu tun wie ein Trabant mit einem
Mercedes. Herr Reintsch entreißt ihm vor einer begründeten Stellungnahme
zur Echtheit seines Besitzgutes das Wort: "Leo, wer war letzte Woche
unser Thema?" "Black Op!", sagt er freudestrahlend. "Nicht ganz. Hiob.
Nicht Estefanias Eselsbrücke vergessen: He-Man und Black Op = Hiob."
Mein Ist-das-euer-verfickter-Ernst-wo-zur-Hölle-sollen-diese-Typen-eigentlich-mal-landen-die-können-doch-nicht-alle-in-der-Schnitzelstube-arbeiten-Blick
(wer ihn sieht, weiß Bescheid) wird ignoriert. "Und was ist Hiob
passiert, Malte [ich kann mir nicht helfen, aus irgendeinem Grund, war
dieser Junge mir besonders unsympathisch]?" "Gott hat gewettet, dass
Hiob immer noch auf seine Atzenpartys kommt, wenn er seine Kinder killt
und seine Kühe umschubst." "Im Himmel gibts keine Atzenpartys, nur
Gangbangpartys!", grummelt der Oompa-Loompa aus der letzten Reihe. Die
Klasse lacht als wäre es die letzte Gelegenheit dazu. Sowas fanden wir
doch früher nicht lustig. Oder? Ich bin in einer Krise. Ich passe weder
in die Gruppe der depressiven Unterrichtenden noch in die, der zu oft
gegen die Wand geklatschten Redneck-Kiddies. "Und was lernen wir daraus,
Selcuk?", fragt der Alleinunterhalter von vorne, von der Antwort schon
vorab enttäuscht. "Glücksschepiel kann süschtig machen." Wie schön, dass
jeder sich die Bibel individuell auslegen kann.
Immer, wenn
Reintsch sich umdreht, fliegen Papierkugeln auf mich. Ein weiterer
Schüler betritt erst jetzt den Klassenraum: "Sorry, war noch kacken."
Auch hier schlägt der Hobbit zu: "Solange?! Da saß dir aber einer quer!"
Kackwürste können gar nicht quer sitzen, sie erhalten ihre längliche
Form erst durch den Ausscheidungsprozess selbst. Was für mich
Grundwissen ist, ist für diese Spongos theoretische Physik. Meine
intellektuelle Distanz wird allen immer bewusster. Wie erreiche ich
diese Kinder? Ich schaue in meine Praktikumsunterlagen und bemerke, dass
ich mir den vollen Namen des Lehrers aufschrieb. Ich erinnere mich an
Michael. Dieses clevere, kreative Mastermind. Auch er war nur ein
Hauptschüler in Verkleidung. Völlig klar: ich brauche meine Anagramm
Magie. Dirk Reintsch. Und nein, ich weiß immer noch nicht wie ich das
mache: "Hey, hey Leopold." In Bruchteilen von Minuten rotiert der
Kampfkoloss um seine eigene Achse: "Was los?" "Wusstest du, dass Dirk
Reintsch ein Anagramm für Stricherkind ist?" "Nee." "Cool, ne?" "Was isn
Analgramm?" "Ein Wort oder Phrase, das man aus den Buchstaben eines
anderen Wortes formen kann." "Hab ich vor ner Woche auch! Da hab ich in
meiner Buchstabensuppe Döner geschrieben, aber mit "A" am Ende."
Im
selben Moment in dem mir auch das letzte bisschen Motivation
kapituliert, merke ich, dass die Stunde rum und "Stricherkind" über alle
Berge ist. Ich möchte mich unauffällig aus dem Raum stehlen, bis eine
schrecklich Kreatur (halb Akne, halb Schweinebärmann) sich tanzend auf
den Tisch stellt und einen Track auf seinem – keine Ahnung ob echten,
aber mit ziemlicher Sicherheit echteren – iPhone abspielt. Eine
Frauenstimme skandiert auf spanisch "mit den Terroristen". Er ist der
einzige der tanzt. Vielleicht geht es ihm nicht gut, vielleicht sollte
ich Hilfe holen. Doch nichtsahnend bricht mit dem Wort "Harlem-Shake"
(ja, ok, in dieser Situation wäre es einmal gut gewesen beschissene
Internettrends zu kennen, touché) die Anarchie über uns herein. Selcuk
entzweit sein Pausenbrot und klatscht es ins Waschbecken, während das
Heinzelmännchen wie ein Fußball in den Flur gekickt wird. Einer
wandelnden Monobraue entgleist bei der Prozedur Lakritz in seinen Anus
zu schieben das Gesicht und ich bin mir ziemlich sicher, dass in der
dritten Reihe gerade jemand mit Dildos verprügelt wird. Dieses
abscheuliche Bild wird sich auf ewig in meine Netzhaut einbrennen und...
das war nur mein erster Tag hier.
Die Hauptschulchroniken: Life of Pie
Lektion American π : Wie werbe ich für Kuchen? (No. 2/3)
(Vorsicht: In diesem Teil stirbt Dumbledore.)
"Ok, jemand muss den 6. Klässlern beim Kuchenverkauf helfen. Kniffeln
oder Pokern?" Mein Vorschlag, dass man es am fairsten ausrambolen könne,
bleibt nicht unerhört. Dergestalt, dass ich – der undefinierbare
Praktikant – ja sowieso nichts besseres zu tun hätte.
"Aber ich bin Veganer und hasse Kuchen!" Eine herbe Notlüge. Ich liebe
Kuchen. Kuchen ist, was aus einem guten Tag einen sehr guten, aus einem
angenehmen Kaffeeklatsch einen hinreißenden, aus einem klassischen Sex
and the City Marathon einen legendären und aus einer Lan-Party, auf der
alle außer mir Spaß haben, eine Lan-Party macht. Wer nicht liebhat, der
kennt Kuchen nicht, denn Kuchen ist Liebe.
Eine Woche ist seit
meinem Blick in den menschlichen Abgrund vergangen, meine Pausen
verbringe ich mit gefrusteten, alkohol- und tabaksüchtigen Ü40ern. Die
langweilige Seite der Macht hat mich komplett gegeißelt, ich mache
Kaffee, kopiere Arbeitszettel (noch nie mit Erfolg – ich bringe sie nach
Isengart) und fertige Korrekturen von Klausurkorrekturen an. Und nun
soll ich die Mini-Mongos auch noch dabei unterstützen am Tag der offenen
Tür Kuchen für neue Springseile (die zeitweise wegen einer Reihe von
Erdrosselungen aus dem "Pausen-Spaß"-Sortiment gestrichen wurden) zu
verticken. Bei 6. Klässern könnte jetzt der eine oder andere denken:
"Wie süß, das sind ja noch Kinder." Bullshit. Das sind Kinder, die sogar
auf der Grundschule so verkackt haben, dass man sie in die
unterstmögliche Bildungseinrichtung abschob. Da hat jeder einzelne schon
mindestens zweimal jemanden mit einer Schere beworfen, insgesamt 0,5l
Klebstoff getrunken und 11 Mitschüler Sand fressen lassen. "Wäwäwä, Juan
Vadiez macht eine ganze Trilogie über Hauptschulklishees."
Was ich
an diesem Ort erleben sollte, ist sogar fernab von allem, was ein
gesunder Mensch mit Schubladendenken überhaupt in seine Schublade
quetschen könnte.
Nach sinnvollen Umwegen am Kuchenstand angekommen,
erahne ich das Elend das mir blüht. Sieben als Nutten verkleidete
Mädchen stehen in, was ich als "Mitten-im-Leben-Posen" bezeichnen würde,
vor verschiedenen Varianten von Hello-Kitty-Cupcakes. Eine Achte sitzt
in der Ecke und weint. "Warum weint sie?", frage ich die am
verbrauchtesten Aussehende. "Sie ist fett und scheiße, sie soll nicht
neben mir stehen, außerdem hat sie nur den Zitronenkuchen vom Aldi
mitgebracht." "Mir obliegt eventuell keine Rezension dieses
Sachverhalts, dennoch ergibt es sich als valide Theorie, dass du in
horizontaler Oppositionierung zu ihr lediglich eine positivere
Impression hinterlässt." "Alter, komm mir nicht mit lateinländisch",
erwidert sie, ihren Kopf dabei hin- und herschwenkend als hätte sie
Parkinson. Eine andere ergänzt, dieselben Symptome aufweisend: "Guck
dich mal an, du Lauch, bist 30 und trägst ne Zahnspange!" Mir egal, dass
Kinder das Alter Erwachsener nicht abschätzen können, deswegen weinte
ich auch nur eine gute Viertelstunde. "Und bist du nicht der Typ der im
Marktkauf den Taubstummen angeschrieen hat?" (s. Lektion 1€ Job. Mir
entging, dass diese Kinder aus Familien stammen, die im dem selben
Social Burningpoint wohnen wie ich)
Die fette Prinzessin im Minirock
hat sich derweil aufgerafft und hält eine rührende Rede. "Es ist mir
egal, dass ich keine knochige Hure bin, oder nicht weiß, was der Psycho
da gerade auf Klingonisch gesagt hat. Aber wir sind alle One Direction
Fans und wir wollen alle neue Springseile haben, also let's wok [Ich
nehme an, es sollte "rock" heißen, aber phonetisch lässt sich das in
keinster Weise rechtfertigen]!" "Bäm, Mädels! Das ist die Einstellung
mit der man Kuchen verkauft!", jubele ich aus gesunder
Sicherheitsdistanz, die man als Motivator und Erfolgscoach einhalten
sollte (20m).
Währen die Miniatur-Prostituierten sich heulend in den
Armen liegen und "What Makes You Beautiful" summen, rauschen erste
potentielle Kunden vorbei. Was wünsche ich mir das NIGE zurück, wo Herr
Bischoff den Stand schon mit der besten Laune, über die er verfügte,
leer gekauft hätte. Aber hier war alles anders. Die Rebellenallianz, die
in wenigen Monaten diese Schule infiltrieren würde, weil für sie nach 7
Jahren die fünfte Klasse erreicht war oder ein Verweis zuviel im
Mehrfamilienpostkasten des Plattenbaus landete, findet Kuchen "voll
schwul". Hello-Kitty Cupcakes sind jetzt ehrlich gesagt auch nicht das
maskulinste was mir einfallen würde.
Die einzigen, die sich für den
Stand interessieren, sind die Eltern der Mädchen, die aber trotzdem
keinen Kuchen kaufen, sondern lediglich per Foto den Traum der Karriere
im Einzelhandel festhalten wollen.
Keine Art des Marketings schien
zu funktionieren. "5€ - All you can eat!" scheiterte definitiv an der
Sprache. Auch "jedes Stück Kuchen gibt einem Kind in Afrika ein zu
Hause" wurde nur mit respektvollem Nicken zur Kenntnis genommen. Bei
"Mecces Muffins" war kurz einer interessiert, dessen gesamte Familie
arbeitete allerdings dort und konnte den Fehler nach eingängiger
Recherche der Coupons aufdecken. "Wir sind Versager, wir werden niemals
wieder Seilspringen können!"
"Nicht so schnell, Jabba, eine Idee
habe ich noch." Aus der Ferne erspähen meine Elbenaugen (zumindest
zeitlich) abschlussnähere Schüler. "Gebt mir etwas zu schreiben!"
Nachdem ich Smartphones aller Arten ablehnte und sich zumindest in der
Tasche eines der Mädchen noch Bleistift und Glitzerpapier fanden,
platzierte ich stolz und unauffällig ein Schild vor den, in zwei Minuten
von ihren Müttern zubereiteten, Backwaren. Die Jungs kauften gleich den
ganzen Stand, während Dumbledore mit dem Balrog in die Tiefen Morias
stürtzte. Wir waren reich.
"Herr Wattjes, the Champions"-Chöre (ich
fühlte mich noch nie in so behinderter Grammatik so geehrt) hallen über
den Schulhof. Die Asiweiber würden mich bis zum Sportplatz tragen,
brächen dabei nicht ihre Nägel. Das ist sie, meine Resozialisierung. Ich
bin wieder einer von ihnen. Darth Waddels ist Geschichte, ich bin Jann
Wattjes, der Weiße (denn das ist hier eine Rarität). Ich werde morgen
meine erste eigene Unterrichtsstunde leiten. Nicht als Lehrer, sondern
als Mensch. Meine Pausen verbringe ich statt im Lehrerzimmer, in der
Raucherecke der Sekundarstufe I. Dort bin ich ein gefeierter Mann:
Chabos wissen wer Jann Wattjes ist.
Und wenn die Sith... ääh Lehrer
keinen anderen Blöden zum Aufräumen gefunden haben, dann steht das
Schild mit der Aufschrift "Haschkekse" da noch heute...
Die restlichen Texte finde ich nicht mehr so lustig wie den ersten, aber wer weiterlesen möchte was dem guten Praktikanten noch so wiederfahren ist, der kann sich mal auf seiner
Facebook Seite umschauen!